Februar - März 2023
Völlig erfüllt von 12 Tagen Weiterbildung „Sensible und komplexe Fälle in der restaurativen Justiz“ mit Tim Chapman in Biel/Schweiz in Präsenz und online versuche ich an dieser Stelle, die für mich eindrücklichsten Inhalte, die ich über Restorative Justice Prozesse neu (und wieder aufgefrischt) gelernt habe, zusammenzufassen.
Tim Chapman begann den ersten Fortbildungstag mit einem netten Wortspiel. Es ging um die Präsenz. Bin ich im hier und jetzt oder gibt es etwas, womit mein Gemüt, mein Geist beschäftigt ist und was mich momentan daran hindert, gegenwärtig zu sein? Das Wort „present“ aus dem englischen wird im Deutschen meist als der Begriff Geschenk verwendet, es heißt aber eben auch präsent sein. Indem Menschen sich mit ihren Ideen, Erfahrungen und Meinungen zeigen, geben sie ihre Präsenz als Geschenk. Wie schön! Ebenso wie seine Inspiration aus dem japanischen ichi-go ichi-e, was er (Tim Chapman) sinngemäß übersetzte mit: jeder Augenblick, jede Erfahrung ist einzigartig kombiniert mit der Einladung: mach genau diesen Moment zu etwas Speziellem. So wie eben auch jeder Restorative Justice Prozess etwas sehr Einzigartiges und Besonderes ist. Die Teilnehmenden werden niemals mehr zur selben Zeit am selben Ort mit derselben Intention sein. Und so sollten wir Fachkräfte mit all unserer Präsenz diese Begegnung speziell machen. Diese Haltung teile ich uneingeschränkt. Als Fachkraft für Gewaltprävention und für restaurative Begegnungen, die eben auch seit Jahren Hatha- und Bhaktiyoga lehrt und praktiziert, habe ich immer den Aspekt der Gegenwärtigkeit, der Stille und der Eigenermächtigung im Blick und versuche, in dieser Haltung meine Arbeit zu tun und dies auch in meinen Seminaren zu vermitteln.
Tim berichtete ferner aus seiner Erfahrung, dass es eben nicht DEN Restorative Justice Prozess gibt. Jeder Prozess sei anders, und die Fachkräfte seien im Grunde wie Gerüstbauende für ein Haus, in dem ein Riss repariert werden möchte/werden soll. Er appellierte auch an die „Bescheidenheit“ der Fachkräfte, denn Praktikerinnen seien zwar wichtig für die Durchführung eines Restorative Justice Prozess, aber die allerwichtigsten Personen sind die Teilnehmenden. Die sich mit all ihrem Mut, ihrer Trauer, ihrer Wut, ihrem Schmerz, mit ihrer Präsenz zeigen und die Entscheidung fällen, ihre Geschichte zu erzählen, ihre Fragen zu stellen und ihre Bitten zu äußern. Uns Praktikerinnen lehrte er die 8 P’s der Präsenz (die im Deutschen dann eben leider keine 8 Worte, die mit P beginnen, ergeben). Die 8 P´s erklären sich durch die folgenden Begriffe: Personen (Diversität der Teilnehmenden), Zweck (Frage nach dem Ziel), Ort (Setting der Begegnung), Zeitspanne (Zeitpunkt der Begegnung und der Passgenauigkeit), Prozess (Design des Prozesses), Protokoll (Parameter der gemeinsamen Vereinbarungen), Teilnahme (Freiwilligkeit und Bereitschaft), Praktikerin/Praktiker (Stimmigkeit in der Zusammenarbeit). Tim appellierte an die Offenheit in jedem Prozess, der immer anders verlaufen kann, und an das Freimachen der Vorstellungen, die wir selber als Praktikerinnen und Praktiker von einem oder dem speziellen restaurativen Prozess haben. Er betonte besonders die Fähigkeit des Zuhörens und ludt uns dazu ein, unsere Arbeit mit Betroffenen mit den Werten Respekt für die menschliche Würde, der Verantwortung und der Solidarität, mit denen der Rechenschaftspflicht und dem der Verantwortung zu tun. Über allem stünde aus seiner Sicht, dass die Wahrheit nur im Dialog entstehen könne. Eine Person würde ihre Wahrheit erzählen, doch erst wenn die andere Person auch ihre Geschichte erzählen würde, dann entstünde die komplette Geschichte. Wir diskutierten restaurative Schlüsselfragen und beschäftigten uns viel mit dem Thema Trauma. Ich fühlte mich während der drei Tage Weiterbildung sehr bestätigt durch Tims Lehre, dass Praktikerinnen und Praktiker traumainformiert sein müssen, um restaurative Prozesse gut vorzubereiten und zu begleiten. Diese Einschätzung deckt sich mit meinen Erfahrungen von den restorative justice Prozessen, die ich in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen begleitet habe. Die Teilnehmenden waren durchweg sehr belastet, und wir haben traumasensibel gearbeitet.
Sehr eindrucksvoll untermalte Tim seine Lehre mit Beispielen aus seiner Praxis und Forschung, wo er derzeit stark involviert ist in den Gesprächen zwischen der katholischen Kirche und ehemaligen Schülern, die schwerste sexualisierte Gewalt durch Priester erleiden mussten. Er erzählte von seinen Vorgesprächen, in denen er manchmal die allerkleinsten Schlüssel findet, um Türen zu öffnen und die Betroffenen zu unterstützen.
Er ließ uns während dieser Fortbildung einen restaurativen Prozess mit eigenen Fallbeispielen vorbereiten und durchführen vor den Augen und Ohren aller Fachkolleginnen, deren Rückmeldungen unendlich kostbar waren. Wir diskutierten flankierend über narrative Fähigkeiten, über Risikomanagement in restaurativen Prozessen, über die Natur von Beziehungen und darüber, Menschen nicht auf ihre Verletzlichkeit zu reduzieren.
Insgesamt fühle ich mich durch die Weiterbildung so inspiriert und bereichert, dass ich mich sehr auf die Begleitung weiterer restaurativer Kreisdialoge im Gefängnis freue. Zudem hatte ich die Idee, angeregt durch kollegialen Austausch, eine Intervisionsgruppe zu initiieren für Fachkräfte, die restaurative Prozesse durchführen. Sollten Sie sich jetzt angesprochen fühlen, bitte sehr gerne per Email bei mir melden. Ich freue mich auch sehr über Fragen und Kommentare zu meinem Beitrag.
Schließen möchte ich nun mit dem Satz, der mich begleitet: Nicht die Person ist das Problem, sondern das Problem ist das Problem. Ich nehme mir diesen Satz immer wieder zu Herzen!
Eine Besonderheit stellte auch die Dreisprachigkeit der Weiterbildung dar!
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