Die Estacion Esperanza liegt mitten in einem pueblo joven (junges Dorf, bzw. Slum) in dem 160 Familien leben.
Das Hilfswerk engagiert sich im Bereich der Bildungs- und Freizeitangebote, Familienbegleitung und Obdachlosenarbeit. Die Arbeit der Geschäftsführung und des Teams in der Estacion Esperanza ist an das Montessouri Konzept ausgerichtet und erfolgt systemisch-lösungsorientiert mit einer christlichen Grundhaltung. Es ist ein sehr lebendiges Treiben in allen drei Gebäuden der Estacion. Viele Kinder und Jugendliche wuseln durch die Gebäude, werden beschult, unterstützt, haben immer jemanden die/der ansprechbar ist, bekommen Essen und viele Freizeitangebote. Das Singen und Beten vor jeder Mahlzeit war mir am Anfang fremd, wurde jedoch sehr schnell selbstverständlich und sehr sinnhaft für mich in dem dortigen Kontext. Im Laufe meines Aufenthaltes habe ich auch noch einmal einen anderen, vertieften Zugang zu meinem Evangelisch- Sein bekommen. Ich wurde sehr herzlich aufgenommen und bekam ein eigenes Zimmerchen bei meinen bezaubernden Gasteltern Anna Karina und Abraham mit ihrem Sohn Sebastian.
Alle Teammitglieder waren mir von der ersten Sekunde an herzlich zugewandt, unglaublich bemüht mich zu integrieren und kommunizierten mit mir in allen möglichen Sprachen und mit Händen und Füßen.
Alle waren unglaublich wissbegierig, etwas über die Arbeit mit Betroffenen von Häuslicher Gewalt zu lernen. Ganz besonders wollten sie sich in der Arbeit mit den Aggressoren weiterbilden. Alle Teammitglieder, denen es möglich war, nahmen an den sechs internen Schulungen zur Täterarbeit häuslicher Gewalt teil. Im Folgenden möchte ich etwas darüber schreiben, welche Schulungsmodule mit welchen Inhalten zur kultursensiblen Umsetzung von Täterarbeit in der Estacion Esperanza zum Einsatz kamen. Ich orientierte mich dabei an meiner Fachpraxis und den Qualitätsstandards der Bundesarbeitsgemeinschaft Täterarbeit Häusliche Gewalt e.V.. Wir bezogen örtliche wie kulturelle Gegebenheiten und Ansätze immer mit ein. Für mich war es sehr wichtig, dass ich die Schulungen mit der Haltung einer Fragenden durchführte. Ich kenne mich zwar gut aus im Bundesnetzwerk häusliche Gewalt und in der Arbeit mit gewaltaktiven Männern und Frauen im Einzel- und Gruppensetting in Deutschland, hatte jedoch keine Ahnung von der peruanischen Kultur und dem dortigen Netzwerk häuslicher Gewalt. So nähere ich mich zwar grundsätzlich in meinen Seminaren und Vorträgen immer sehr fragend und dialogisch dem Fachpublikum, in der Estacion Esperanza war es jedoch eine noch speziellere Situation. Zum einen entfiel die direkte Kommunikation weitestgehend (mein Spanisch ist auf B1- Niveau) zum anderen wollte ich unbedingt mit dem Team erarbeiten, wie sich die Arbeit mit Aggressoren vor Ort umsetzen lässt. Und diese Fragestellung enthielt mehrere Ebenen. Ich versuchte also in den Schulungsmodulen nicht nur dem Team ein zusätzliches Handlungsrepertoire zur Arbeit mit volljährigen gewaltaktiven Männern mit an die Hand zu geben, sondern ihnen auch die kulturelle und juristische Situation in Deutschland und der Schweiz rund um das Thema häusliche Gewalt zu vermitteln. Gemeinsam erarbeiteten wir die gesellschaftlichen Vorgehens- und Umgangsweisen bei Fällen Häuslicher Gewalt in Peru. Besonders erschüttert haben mich die folgenden Aussagen zum Rollenverständnis und zur Haltung der Gesellschaft und Einzelner in Peru zu häuslicher Gewalt:
„die Männer denken: ich mache es (Gewaltausübung), weil sie (die Frau) es verdient“
„die Gewalt ist normal, der Mann denkt, er steht höher als die Frau“
„es gibt Gesetze gegen häusliche Gewalt, aber keine Strafverfolgung. Die Polizei nimmt die Opfer nicht ernst und der Staat unterstützt weder Täter noch Opfer“
„die Gesellschaft erachtet es als normal, dass der Mann die Frau schlägt“
„die Gesellschaft denkt, dass die Frau selber schuld sei, wenn sie Opfer von häuslicher Gewalt wird“
Insbesondere den Aspekt, dass es zwar Gesetze gibt, die jedoch kaum angewendet werden, konnte ich gar nicht fassen. Doch im Laufe der Wochen in der Estacion Esperanza wurde ich in einige Frauenkreise eingeladen, wo Frauen schreckliche Erlebnisse erzählten, die sie persönlich erlebt haben. Geprügelt und alleine gelassen…von der Polizei verhöhnt und beschämt. Vom Staat alleine gelassen, da sowohl die Staatsanwaltschaft als auch die Gerichte korrupt seien.
Mein Ziel war es fortwährend zu überprüfen, was von der deutschen Landkarte häuslicher Gewalt sich in Peru wohl umsetzen, bzw. in eine bereits bestehende Struktur integrieren ließe.
In den Schulungen haben wir zu Gewalthandlungen und Formen der häuslichen Gewalt gearbeitet und ich habe Inhalte und Methoden und die Wichtigkeit von Sensibilisierung der Körperwahrnehmung in der Täterarbeit vermittelt. Wir haben viele praktische Übungen für die Arbeit mit Tätern Häusliche Gewalt gemacht und uns einem professionelles Selbstverständnis in der Täterarbeit Häusliche Gewalt genähert. Auch die Verantwortungsübernahme als zentrales Thema in der Täterarbeit HG haben wir eingehend diskutiert. Wir haben uns intensiv mit den Auswirkungen der häuslichen Gewalt auf Kinder und Jugendliche beschäftigt. Mit den biopsychosozialen Folgeerscheinungen, die das Team aus vielen Schilderungen derjenigen Familien kennen, die in die Estacion Esperanza kommen. So konnten wir die Theorie immer gleich mit Fallbeispielen verknüpfen. Einige Teammitglieder berichteten offen von ihren eigenen Gewalterfahrungen in der Kindheit und Jugend. Sie waren sehr berührt und es wurde ihnen klar, wie wichtig es ist, sich mit den eigenen Opfererfahrungen auseinanderzusetzen und auch mit den eigenen „Täteranteilen“. Auch diese entdeckten sie während der Schulungen. Sie berichteten von Situationen in denen sie selber Täter und Täterin geworden seien. Diese Art der Selbstreflektion ist für mich eine grundlegende Voraussetzung, um in diesem Bereich der häuslichen Gewalt zu arbeiten. Wenn ich als Fachkraft mir nicht klar bin über meine eigenen Verletzungen und die damit einhergehenden Bewältigungsstrategien, dann kann ich meine Arbeit nicht maximal hilfreich tun. Ich habe Kollegen in dem Bereich der Gewaltprävention erlebt, die in Bezug auf ihre eigenen Täteranteile einen blinden Fleck hatten und dadurch extrem destruktiv in der Arbeit mit Tätern häuslicher Gewalt gewirkt haben.
Besonders herausgearbeitet in diesem Prozess wurde dabei vom Team ein kulturell bedingter Aspekt. Eine Befürchtung des „es no possible“, z.B., wenn der Mann bzw. das Paar die Haltung der gegenseitigen Schuldzuweisungen ändern, dann würden sie umswitchen zu gegenseitigen Verantwortungsvorwürfen. Die Täterarbeit HG müsse laut dem Team zu viert in einer Gruppe gemacht werden, um mit diesem besonderen Widerstand fertig zu werden.
Die fünf Grundformen der häuslichen Gewalt mit geclusterten Handlungen
Das Team war von Anfang an so wissbegierig und selbstreflektierend, dass mir die Arbeit mit ihnen eine wahre Freude war. Hier eine interaktive Übung zum Thema Wertschätzung
Im Jahre 1993 wurde vom peruanischen Staat das Gesetz Nr. 26260 erlassen, ein Gesetz zum Schutz gegen häusliche Gewalt, als Folge der Unterzeichnung des interamerikanischen Abkommens zur Verhütung, Bestrafung und Beseitigung von Gewalt gegen Frauen. Dieses Gesetz wurde mehrfach geändert, um von häuslicher Gewalt betroffene Frauen zu schützen. In der Praxis jedoch hat es anscheinend nicht den erwarteten Effekt. Das wurde insbesondere in Tagesveranstaltungen und Fachaustauschen in Ministerien mit Fachkolleginnen und Fachkollegen deutlich. Das Gesetz wird nicht in der Praxis umgesetzt und für Betroffene von häuslicher Gewalt gibt es kaum bis keine Unterstützung vom Staat und von der Justiz im speziellen. Gemeinsam erarbeiteten wir auch hier entlang der Fragestellung, was es in Peru bräuchte, um Täterarbeit umsetzen zu können und vor allem auch die Männer zu überzeugen, dass dies ein Dienst an die Gesundheit ihrer Familie sei.
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